Es war die erste Pressekonferenz als neuer Bayern-Trainer, in der Jürgen Klinsmann einen Satz tätigte, der ihm noch oft vorgehalten werden sollte: „Ich möchte jeden Spieler jeden Tag besser machen.“ Die einfache Floskel eines Trainers. Eine, die Klinsmanns Philosophie auf den Punkt bringt – ebenso wie später sein Scheitern.
Klinsmann also sollte in die Fußstapfen Ottmar Hitzfelds treten, der sich in Teilzeit-Rente verabschiedet hatte. Neben dem ehemaligen National- und Bayernstürmer stand auch der Mainzer Trainer Jürgen Klopp auf der Kandidaten-Liste, Uli Hoeneß soll sich mit ihm sogar schon einig gewesen sein. Doch die internationale Erfahrung gab im Vorstand letztlich den Ausschlag für Klinsmann – und Hoeneß sagte Klopp ab. Eine Entscheidung, die die Bosse das ein oder andere Mal bereut haben dürften. (Dass Klopp dennoch einen nicht geringen Anteil am heutigen Erfolg der Bayern besitzt: Ironie der Geschichte.)
Die Säbener Straße wird modernisiert
Nun also Klinsmann: Vater des Sommermärchens, großer Motivator, Revolutionär – Konzepttrainer. Neben der Arbeit auf dem Trainingsplatz sollte er den Verein auf den aktuellen Stand bringen und – ähnlich wie er es beim DFB getan hatte – mit frischen Ideen verkrustete Strukturen aufbrechen. Der FC Bayern als Projekt. Statt teurer Neuzugänge gab es ein nach eigenen Vorstellungen gestaltetes Leistungszentrum an der Säbener Straße. Die Spieler sollten sich wohlfühlen und ihren außerfußballerischen Horizont erweitern können. Der Anklang bei den Spielern war eher gering – für (mediales) Aufsehen sorgten dagegen die überall auf dem Gelände aufgestellten Buddah-Statuen: Werkzeuge, um „jeden Spieler jeden Tag ein bisschen besser zu machen“.
Neben Klinsmann, der sich als Art Supervisor verstand und Detailaufgaben delegierte, trat auch eine Schar Assistenten den Dienst an der Säbener Straße an. Der in Deutschland unbekannte Martín Vásquez wurde zum Co-Trainer erkoren, auch hielten wissenschaftliche Analysemethoden Einzug.
Während in Mitarbeiterstab und Infrastruktur also kräftig investiert wurde, erfuhr der Kader nur wenig Veränderungen: Oliver Kahn – vor der Heim-WM von Klinsmann zum Ersatzkeeper degradiert – ging in Rente, Marcell Jansen und Jan Schlaudraff, die sich nie durchsetzen konnten, verließen nach nur einem Jahr den Verein. Aus Bremen kam Tim Borowski, einer von Klinsmanns Lieblingsschülern während seiner Zeit beim DFB, außerdem der erfahrene Hans-Jörg Butt als Ersatzkeeper und, kurz vor Ablauf der Transferfrist, Massimo Oddo per Leihe von AC Milan.
Von David und Goliath
Das Team startete durchwachsen: nach zwei Unentschieden, zwei Siegen und zwei Niederlagen sowie einer weiteren Punkteteilung fand man sich nur auf Rang 11 wieder. Insbesondere das 2:5 gegen Bremen in der heimischen Allianz-Arena zum Wiesenauftakt war ein deutlicher Hinweis, dass ein „Konzept“ alleine vielleicht nicht ausreicht, um mit dem FC Bayern Erfolg zu haben. Die Medien hörten schon die ersten Sägen an Klinsmanns Trainerstuhlbeinen.
Wenige Jahre später berichtete Philipp Lahm, dass fast ausschließlich konditionell gearbeitet wurde, taktische Aspekte blieben den Spielern überlassen. Verstärkt wurden die Schwierigkeiten durch den Kontrast zu einer anderen Mannschaft: Der Bundesliganeuling TSG 1899 Hoffenheim spielte unter Ralf Rangnick einen erfrischenden Offensivfußball, ärgerte die etablierten Bundesligisten und schnappte sich die Herbstmeisterschaft. Quasi das, was alle von Klinsmann erwarteten.
Zurück in der Erfolgsspur
Am 8. Spieltag begann mit dem 1:0 in Karlsruhe allerdings ein Lauf: Bis zum Ende der Hinrunde gab es sieben Siege und zwei Unentschieden, in der Champions League wurde man mit 14 Punkten Gruppenerster und auch im Pokal konnte man überwintern. Klinsmann schien angekommen in München. Es war noch nicht der schönste Fußball, den der FC Bayern spielte, aber es war ein erfolgreicher Fußball.
Und auch der Spielplan spielte den Bayern in die Karten: Am 15. Spieltag musste man als Tabellendritter beim Zweiten Bayer Leverkusen ran. Und die Bayern waren in blendender Verfassung, Leverkusen wurde mit 2:0 geschlagen, Bayern zog vorbei. Tabellenführer mit fünf Punkten Vorsprung zu diesem Zeitpunkt: der Aufsteiger aus Hoffenheim. Am nächsten Spieltag das Spitzenspiel: Der große FC Bayern, der alles gewonnen hatte was man gewinnen konnte, der Spieler wie Beckenbauer oder Gerd Müller hervor gebracht hatte, der Ribery, Toni, Klose, Lahm, Schweinsteiger und so viele namhafte Akteure mehr in seinen Reihen hatte, gegen den Dorfklub aus Hoffenheim. Gegen den Aufsteiger. Den Neuling. Den Milliardärsklub. „Das Projekt“. Und gegen Vedad Ibisevic, der zu diesem Zeitpunkt drauf und dran war Gerd Müllers Fabelrekord gefährlich zu werden.
Doch es sollte anders kommen: Gegen die Bayern erzielte Ibisevic sein letztes Tor der Saison (sein 18. im 16. Spiel), im nächsten Spiel setzte ihn ein Kreuzbandriss außer Gefecht. Doch auch sein Führungstreffer zum 1:0 half den Hoffenheimern nicht. Phillip Lahm, und (wer sonst?) Luca Toni in (wann sonst?) allerletzter Minute stellten den 2:1-Erfolg der Hausherren sicher. Nur noch zwei Punkte Rückstand auf den Emporkömmling, dem man den Herbstmeistertitel überlassen musste. So ging es in die Winterpause.
Auf und ab … und auf und ab …
Diese nutzte Klinsmann um auch in Dubai frischen Wind wehen zu lassen. Dieser war amerikanisch angehaucht und hörte auf den Namen Landon Donovan. Doch trotz allen Vorschusslorbeeren konnte er sich während der Leihe nicht für höhere Weihen empfehlen und kehrte in die USA zurück.
Die Rückrunde ließ sich dennoch vielversprechend an: Hatte man am 17. Spieltag noch 2:2 gegen Stuttgart gespielt, so wurden diese in der 3. Pokalrunde mit 5:1 aus dem eigenen Stadion geschossen. Doch bald darauf kam die Ernüchterung: Einer Niederlage gegen den HSV folgte ein noch schlechterer Start als in die Hinrunde. Nach 22 Spieltagen war man auf Platz 5 zurückgefallen, die Chefetage wurde langsam aber sicher unruhig. Ein erneutes Verpassen der Champions League wäre fatal gewesen, Bayerns Vormachtstellung drohte erste Risse zu bekommen.
Frisches Blut aus der eigenen Jugend
Doch Klinsmann schien die Situation in den Griff zu bekommen. Einem furiosen 5:0 bei Sporting Lissabon im Achtelfinale der Königsklasse folgte ein leichter Aufwärtstrend in der Bundesliga. Was allerdings auch folgte: eine herbe 2:4-Schlappe bei Bayer Leverkusen im Viertelfinale des DFB-Pokals – der erste Titel war verspielt. Das Rückspiel gegen Sporting musste dazu herhalten, sich den Leverkusen-Frust von der Seele zu schießen: Die Bayern legten los, wo sie in Portugal aufgehört hatten. Bereits zur Pause stand es 4:1. Das war auch noch in der 72. Minute so, als Bastian Schweinsteiger ausgewechselt wurde. An und für sich keine nennenswerte Tatsache. Allerdings kam nicht, wie sonst in der Saison, Hamit Altintop oder Jose Sosa auf den Platz – sondern ein junger Mann, ja fast noch ein Kind, den wohl die wenigsten an diesem Tag im Stadion und an Deutschlands TV-Schirmen kannten. Wie dieser Spieler hieß? Thomas Müller.
Seine Entdeckung wird Louis van Gaal zugeschrieben und ja, ohne van Gaal wäre Müller vielleicht nie der geworden der er heute ist. Aber Fakt ist: dieser Thomas Müller gab im Achtelfinalrückspiel der Champions League beim Stand von 4:1 sein internationales Debüt unter Jürgen Klinsmann. Ein Stürmer also. Blutjung. Und mit dem Namen Müller. Beim FC Bayern. Eine Konstellation zum Träumen. Und der neue Müller, der Thomas, wusste zu überzeugen: In der 90. Minute netzte er mülleresk zum 7:1 Endstand ein, nachdem er bereits das 5:1 schön eingeleitet hatte.
Der finale Stoß
Doch das sollte es mit Klinsmanns Glanzmomenten gewesen sein: In der Bundesliga gab es ein herbes 1:5 in Wolfsburg gegen Ex-Trainer Magath und seine Meister-Wölfe (das Grafite-Tor ist Bundesligageschichte), in der Champions League ging es zum FC Barcelona (übrigens erstmals auf der Bank: ein gewisser Holger Badstuber). Dort bekamen harmlose Bayern sehr schmerzhaft ihre Grenzen aufgezeigt und nur der Gnade der Katalanen war es zu verdanken, dass es nicht höher als 0:4 ausging.
In der Champions League ausgeschieden, im Pokal gescheitert, in der Liga im Hintertreffen. Klinsmanns Stuhl wackelte nicht länger, er schwankte. Wenig verwunderlich, dass das Projekt Klinsmann nach der 0:1-Heimpleite gegen den FC Schalke beendet wurde.
Freundschaftsdienst des Fußballlehrers a.D.
„Wir brauchen jetzt einen Fußballlehrer, keinen Revolutionär.“ – so Hoeneß‘ Stellenbeschreibung und erster Seitenhieb gegen Klinsmann, von denen noch weitere folgen sollten. Den Platz an der Seitenlinie bekam für die letzten fünf Saisonspiele Jupp Heynckes. Der hatte sich eigentlich in den Ruhestand verabschiedet, nachdem die letzten Stationen Schalke und Gladbach seine Kompatibilität mit dem modernen Fußball in Zweifel gezogen hatten. Doch für seinen guten Freund Uli Hoeneß sprang er gerne kurzfristig ein, um ein allerletztes Mal Bundesligaluft schnuppern – den ihm angebotenen längerfristigen Vertrag lehnte er ab.
Er beförderte Bastian Schweinsteiger in die Zentrale und mit vier Siegen und einem Unentschieden den FC Bayern auf Platz 2: Champions League-Teilnahme gerettet. Mission erfüllt. Und: neuen Geschmack am Trainerdasein gefunden. Welch ein Glück für den FC Bayern – auch wenn er diesem zunächst den Rücken kehrte und in Leverkusen anheuerte. Doch schon dort sollte er am neuen FC Bayern mitarbeiten und einen frühzeitig als Jahrhunderttalent geadelten Spieler zu internationalem Format formen …
Fortsetzung folgt.
Hier geht’s zu Teil 1: Das Sommermärchen und seine Folgen