Eingeschworen – aber nicht unumstritten
Seit dem 3:0-Sieg über Spanien im Confed-Cup-Finale 2013 steht Scolaris Team im Kern. Er hat eine verlässliche Truppe gefunden, die auf das gemeinsame Ziel, den Triumph im eigenen Land, eingeschworen ist. Die erste Elf wird angeführt von den vier Kapitänen Jùlio Cesár, Thiago Silva, David Luiz und Fred. Im Fokus steht aber vor allem die Nummer 10, Neymar – der nächste neue Pelé. Obwohl Felipão Scolari großes Vertrauen bei Mannschaft und Fans genießt, ist seine Personalwahl bei letzteren nicht gänzlich unumstritten.
Im Rahmen der Goalimpact-Reihe World Cup – All Optimal National Teams habe ich nun die Gelegenheit, dem auf den Grund zu gehen. Statt subjektiver Meinungen schauen wir auf den Goalimpact – ein Wert, der besagt, wie groß der (positive) Einfluss eines Spielers auf die Tordifferenz seiner Mannschaft war. Je höher der Wert, desto besser. Das eröffnet uns die Möglichkeit, Spieler über die Grenzen von Position, Liga, ja sogar Generationen hinweg zu vergleichen. Taktische Empfehlungen kann man daraus aber nicht ableiten – der Goalimpact besagt nicht, wie der Spieler die Tordifferenz verändert.
Aber zurück zur Nationalmannschaft Brasiliens: Wird die Personalwahl des Weltmeisters von 2002 von Goalimpact gestützt? Oder bestätigen sich die Befürchtungen mancher Fans? Eins kann ich jetzt schon versprechen: Es wird mehr als ein prominentes Opfer geben …
Das Team Goalimpact
Hier ist das brasilianische Team mit den höchsten GI-Werten auf ihren Positionen:
Auf den ersten Blick erkennbar: Ganze fünf Spieler, die Goalimpact in der ersten Elf sieht, hat Scolari nicht mal in seinen Kader nominiert (rot), die übrigen sechs sind immerhin dabei, allerdings nur drei in der Startformation (grün). Wenn wir etwas genauer hinschauen, sehen wir, dass Goalimpact sogar auf alle (!) vier Kapitäne verzichtet – und auf Superstar Neymar obendrein! Was ist da los? Gehen wir der Reihe nach vor:
Torhüter
Hier steigen wir gleich in die Vollen ein: Goalimpact würde keinen der drei nominierten Schlussmänner in seinen WM-Kader berufen! Helton (GI 148) vom FC Porto wäre die klare Nummer 1, gefolgt von Artur Moraes von Benfica und Fábio von Cruzeiro. Scolaris erster Mann, Jùlio César (116), kommt erst knapp dahinter als vierter ins Ziel. Vor allem an seiner Person zeigt sich die Bedeutung der Família Scolari: öffentlich ist er keineswegs unumstritten, dennoch hält Scolari unumstößlich an ihm fest. Dass aber der um 32 GI-Punkte besser bewertete Helton nicht einmal auf der Bank Platz findet, ist erstaunlich.
Abwehr
Auch in der Viererkette warten zwei faustdicke Überraschungen: Bei der Besetzung der Außenverteidiger sind sich der Algorithmus und der Fußballlehrer noch eins: an Marcelo (150) und Dani Alves (178) führt kein Weg vorbei. Doch das Innenverteidigerpärchen bilden nicht David Luiz und Thiago Silva – Goalimpact bevorzugt Alex (141) von PSG und Bayerns Dante (136). Letzterer mag durchaus Argumente gegen den bisweilen chaotischen David Luiz besitzen, Thiago Silvas Nichtberücksichtigung hingegen ist unverständlich. Die Kollegen von Spielverlagerung.de bezeichnen ihn in ihrer WM-Vorschau sogar „guten Gewissens als besten Innenverteidiger der Geschichte“ und als den Schlüsselspieler der Seleção. Vereinskollege Alex hat dem außer dem GI wenig entgegenzusetzen – und fehlt auch im Kader.
Mittelfeld
Die Sechs besetzen beide gleich: Luiz Gustavo (141) ist der erste Abräumer im Lande. Seine Mitstreiter im zentralen Mittelfeld hingegen sind jeweils andere: Scolari setzt auf Paulinho und den 10er Oscar, Goalimpact zieht ihnen die defensiveren Fernandinho (145) und Fernando (140) vor. Während ersterer im Kader steht, fehlt der Zweite ganz.
Angriff
Hier dreht sich alles um Neymar – denkste. Goalimpact stellt die Offensivabteilung komplett um: Willian (141) und der ehemalige Weltfußballer Kakà (133) spielen hinter Alan (131) von RB Salzburg. Während Hulks (131) Aufstellung auf GI-Basis nachvollziehbar ist (nur 2 Punkte Differenz zu Kakà), wird es bei Fred kritischer: Alan wird ganze 20 Punkte höher bewertet. Doch auch hier greift das Prinzip Família: seinen Platz samt Führungsrolle hat Fred durch den Confed-Cup sicher. Alan ist wie Kaká nicht nominiert worden. Am deutlichsten und überraschendsten jedoch ist die Besetzung links außen: Willian und Neymar trennen 27 GI-Punkte. Ob er die ihm zugewiesene zentrale Rolle im Offensivspiel auf WM-Niveau ausfüllen kann?
Team Scolari
So weit, so kontrovers – doch es wird noch besser. Denn hier kommt Scolaris bevorzugte Stammelf:
Die Namen sind die bekannten – man beachte aber die Farben: Nicht genug, dass Scolaris Schlüsselspieler nicht aufgestellt werden; nach dem Goalimpact finden sie nicht einmal im Kader Platz! Wie ist das zu erklären?
Potenzial, Konstanz, Wahrnehmung
Wie eingangs erwähnt, sagt der Goalimpact nichts über die Art und Weise aus, mit der ein Spieler zur Tordifferenz der Mannschaft beiträgt – übertrieben gesprochen: Ein Spieler, der vier Tore schießt und drei verschuldet steht besser da als einer, der keins zulässt und keins schießt. Für die Balance der Mannschaft könnte der zweite aber deutlich besser sein. Dazu kommt, dass man bei der Beurteilung von Spielern häufig in Potenzial denkt: Zu was ist der Spieler fähig, wenn er sein Können abruft und optimal eingesetzt wird? Goalimpact hingegen schaut auf das Ergebnis – und das ist unabhängig davon, ob der Spieler auf einer ungeeigneten Position einsetzt wurde oder das Spiel auf ihn zugeschnitten war. Ein weiterer Faktor ist die Wahrnehmung gerade von Spielern wie Neymar: Jeder kennt ihn, jeder kennt seine Tricks und Traumtore – aber die vielen Spiele, in denen er keinen Effekt erzielen konnte, finden im kollektiven Gedächtnis ebensowenig statt wie auf YouTube. Vielleicht mag Neymar viele Ausreißer nach oben haben – solange die Ausreißer nach unten dem aber die Waage halten, wird er nicht höher bewertet als ein Spieler, der immer eine durchschnittliche Leistung bringt.
Die Wahrheit liegt auf dem Platz
Scolari hat ein Team zusammengestellt, dem er den Titel zutraut. Eine eingeschworene Gemeinschaft, die sich seit einiger Zeit kennt, die das gemeinsame Ziel fest fokussiert hat und füreinander einsteht. Eine Fußballmannschaft, die eine gemeinsame taktische Marschroute verfolgt, deren Stärken und Schwächen vom erfahrenen Coach ausbalanciert wurden und die Freude am gemeinsamen Spiel hat. All das sind Faktoren, die der Goalimpact nicht bemessen kann. Ob die Família Scolari am Ende erfolgreich war – das jedoch wird sich auch am Goalimpact ablesen lassen.
Bonusmaterial:
Hier die GI-Charts aller in der Tabelle aufgelisteten Spieler. Die dünne Linie (bei Keepern nicht vorhanden) bezeichnet den voraussichtlichen Peak. Bleibt die Linie konstant, entwickelt sich der Spieler erwartungsgemäß; steigt sie, entwickelt er sich besser als erwartet.
Der gesamte WM-Kader Brasiliens mit GI-Wert, rechts die von Goalimpact vorgeschlagenen Alternativen.
Scolaris Kader | Goalimpacts Alternative | ||||
Position | Name | GI | Name | GI | Diff |
TW | Júlio César | 116,48 | Helton | 148,31 | + 31,83 |
TW | Victor | 115,40 | Artur Moraes | 120,35 | + 4,95 |
TW | Jefferson | 93,13 | Fábio | 117,46 | + 24,33 |
IV | Dante | 136,44 | – | ||
IV | David Luiz | 131,88 | Alex | 141,23 | + 9,35 |
IV | Thiago Silva | 129,16 | André Ramalho | 136,21 | + 7,05 |
IV | Henrique | 104,04 | Miranda | 134,73 | + 30,69 |
RV | Daniel Alves | 177,76 | – | ||
RV | Maicon | 122,81 | Rafinha | 133,51 | + 10,70 |
LV | Marcelo | 150,19 | – | ||
LV | Maxwell | 142,71 | – | ||
DM | Luiz Gustavo | 141,16 | – | ||
ZM | Fernandinho | 144,52 | – | ||
ZM | Ramires | 130,37 | – | ||
ZM | Hernanes | 122,59 | Fernando | 140,33 | + 17,74 |
ZM | Paulinho | 113,18 | Cadu | 125,46 | + 12,28 |
OM | Oscar | 123,61 | – | ||
RA | Willian | 141,02 | – | ||
RA | Hulk | 130,84 | – | ||
LA | Neymar | 114,41 | Kaká | 132,53 | + 18,12 |
LA | Bernard | 100,75 | Robinho | 128,35 | + 27,60 |
MS | Jô | 114,31 | Alan | 131,17 | + 16,86 |
MS | Fred | 110,59 | Luiz Adriano | 127,09 | + 16,50 |
Titelbild: Hao Ke [CC-BY-SA-3.0]; Família Scolari: Fabio Rodrigues Pozzebom/ABr [CC-BY-3.0-br]; Scolari: Tony Cavalcanti [CC-BY-SA-2.0]; Dilma: Blog do Planalto [CC-BY-SA-2.0].
Bei Thiago Silva wird das Mysterium natürlich schnell gelöst, wenn man seinen Karrierverlauf und seinen (Peak-)GI-Verlauf anschaut. Der 1-Year-Rolling aus den letzten Jahren wär da der spannendere Wert.
(Hat Tim ja auch im Artikel angesprochen, wie er seine Spielweise finden musste.)
Guter Punkt. Erkennt man in der Tat sehr schön: