Brasilien 1:7 Deutschland

Halbfinale: Gastgeber Brasilien gegen Deutschland – was im Vorfeld nach einem spannenden Fußballleckerbissen klang, entpuppte sich als ein Spiel, das zwar wenig spannend, dafür aber umso historischer war. Und das in vielerlei Hinsicht. Wo die heutige Sensationsgesellschaft schnell mit  Superlativen zur Hand ist, erscheinen alle zu schwach um dieses Spiel zu beschreiben. Doch, zum Glück, das Ereignis spricht für sich: 7:1. In einem WM-Halbfinale. Gegen Brasilien. In Brasilien.

Das muss man erstmal sacken lassen. Auch jetzt, einen halben Tag später, fällt es mir schwer, aus den vielen Aspekten, die man erwähnen müsste, die wichtigen herauszukramen – und die Emotionen, die dieses Spiel hervorgerufen hat, wehren sich gegen eine sachliche Analyse und wollen am liebsten nur GEEEEEEEEILLL!!!! schrei(b)en und sich die Highlights in Dauerschleife anschauen. Deshalb klammere ich mich zwanghaft an das gewohnte Muster – hier sind die drei wichtigsten Punkte aus dem Halbfinalspiel gegen Brasilien, etwas ausführlicher als sonst:

1. Bestmarken ohne Ende

Mit seinem Treffer zum 2:0 ist Miroslav Klose nun auch alleiniger WM-Rekordtorschütze, nachdem er gegen Ghana den Rekord bereits eingestellt hatte. In Beisein des alten Rekordhalters Ronaldo erzielte Klose sein 16. WM-Tor und darf am Sonntag sein zweites WM-Finale bestreiten. In den übrigen zwei Turnieren stand er ebenfalls im Halbfinale – auch das eine einmalige Leistung. Wir verneigen uns vor dem ewigen Miro, der zudem der letzte Vertreter der Prä-Fußballinternat-Ära ist.

Daneben ist Thomas Müller der erste Torschützenkönig, der im darauffolgenden Turnier seine Trefferquote wiederholen konnte. Ein weiteres Tor im Finale und er ist der erste Torschützenkönig, der seinen Titel verteidigt. Sein 1:0 war außerdem der 2000. Treffer in der Länderspielgeschichte des DFB. Wenn er so weitermacht, könnte der Klose-Rekord bei der nächsten Weltmeisterschaft schon Geschichte sein.

Dass das 7:1 der höchste Sieg in einem WM-Halbfinale war, ist hingegen wenig überraschend. Zahlreiche weitere Bestmarken und historischen Kontext hat Trainer Baade zusammengetragen.

2. Taktik und Personal

Mit dem 1:0 gegen Frankreich sah ich Löws Paradigmenwechsel schon gerechtfertigt, wie ordnet man jetzt ein 7:1 gegen den Favoriten ein? Löw hat bislang alles richtig gemacht: die aufbaubedürftigen Schweinsteiger, Klose, Khedira sukzessive an die Mannschaft und die WM herangeführt, sodass sie in den entscheidenden Partien ihre Führungsrollen einnehmen konnten. Vor allem dem zentralen Mittelfeld um Schweinsteiger kommt das größte Verdienst zu, aus dem druckvollen Beginn der Brasilianer mit ruhigem Kopf ein Desaster kreiert zu haben. Mit großer Ruhe und Abgeklärtheit wurden die Bälle verteilt und unverzüglich in die gefährlichen Zonen (vor allem hinter den aufgerückten Linksverteidiger Marcelo) gespielt.

Darüber hinaus zeigte die Nationalmannschaft ein exzellentes Pressing, das den geschockten Brasilianern keine Zeit zur Erholung gewährte. Exemplarisch dafür steht Kroos‘ 4:0, das unmittelbar nach dem Anstoß fiel. Kollektiv leitendes Verschieben und aggressive 4-1-3-2-Staffelungen erklären die Kollegen von Spielverlagerung aber deutlich besser.

Doch die vielleicht fruchtbringendste Neuerung dieser deutschen Mannschaft sind die Standards. Wer Löws Einstellung vor den vergangenen Turnieren dazu kennt, weiß, welch großen Schritt er da gegangen ist. (Wenn das so stimmt, was man so hört: Danke, Hansi!) Auch gestern war es wieder eine Ecke, die den Dosenöffner hergab – und was für eine. Nicht nur, dass mit drei gelernten Innenverteidigern plus Klose und Schweisteiger genügend (mindestens) passable Kopfballspieler in der Mannschaft stehen – nein, es werden Varianten einstudiert. Dass Müller vor seinem Tor so frei im Strafraum stand, hat nichts mit ominösen Lücken oder schlechter Zuordnung zu tun: Sein Bewacher David Luiz wurde im Pulk aus drei, vier deutschen Spielern (samt brasilianischer Bewacher) weggeblockt, während sich der spätere Torschütze Müller leise herausschlich.

An dieser Stelle sei der Standardschütze Toni Kroos lobend erwähnt, der – wie Klose nach dem Spiel sagte – den Ball immer genau dorthin bringt, wo er hin soll und wo es gefährlich wird. Gestern sammelte er seinen vierten Standard-Assisst. Wie Bayern diesen Mann gehen lassen kann, ist mir unbegreiflich – aber das nur am Rande. Seine Entwicklung der letzten beiden Jahre, die sich in diesem Turnier zur Weltklasse verdichtet, ist jedenfalls beachtlich.

Generell muss man sagen, dass ein von der Euphorie und der Sehnsucht nach dem Titel (mal positiv, mal negativ) geprägtes Brasilien auf ein Deutschland traf, dass man im Kontrast als brutal beschreiben kann: Während bei Brasilien nur vier Spieler bereits WM-Erfahrung gesammelt hatten, konnte Deutschland eine Mannschaft ins Feld schicken, die in den letzten Jahren in allen wichtigen Wettbewerben gestählt wurde und weiß, worauf es bei einem solchen Turnier ankommt. Dass Neymars – und vielmehr Thiago Silvas – Ausfall schmerzt, ist klar; Deutschland musste in Marco Reus hingegen ebenfalls auf den formstärksten Angreifer verzichten. Bereits vor der WM hatten Scolaris Personalentscheidungen für Diskussionen gesorgt, dass das Ende des brasilianischen Titeltraums allerdings so brutal ausfallen würde, hatte wohl keiner für möglich gehalten.

3. Ekstase trifft Nüchternheit

Fassungslosigkeit, Ekstase, Ungläubigkeit – wohl jeder, der gestern Zeuge dieses Spieles wurde, wusste, dass er historischen Minuten beiwohnte; einem Spiel, von dem in Generationen noch gesprochen werden würde, ein Referenzpunkt in der Fußballgeschichte.

Und doch passte die Reaktion der (deutschen) Akteure kaum in dieses Bild. Sicher, man war erstaunt über die Entwicklung dieses Spiels, aber keiner machte den Eindruck, froh über seinen Platz in den Geschichtsbüchern zu sein. Im Gegenteil: Ein großer Fokus auf das Spiel am Sonntag war zu spüren, Löw sprach gar von Demut.

Schon der Halbfinaleinzug wurde nur sehr zurückhaltend gefeiert; kombiniert mit dem gestrigen Jubel, der sicher nicht einzig durch die unverhoffte Deutlichkeit gedämpft wurde, hat man den Eindruck, dass da eine Mannschaft zusammen ist, die genau weiß, wohin sie will und – vor allem – was sie dafür tun muss.

Das alles lässt mich mit einem guten Gefühl auf Sonntag blicken, egal wie der Gegner heißt. Schon vor dem Halbfinale war ich kaum nervös, was 2002, 2006 und 2010 deutlich anders war. Ob es nun also Argentinien um Messi oder van Gaals Holland wird – Deutschland wird nach diesem Auftritt als Favorit ins Finale gehen. Macht es, Jungs!

 

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Foto: Agência Brasil [CC-BY-3.0-br]

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